Straßenverkehr im Urlaubsland: Wer kennt sie nicht, die Taxi-, Bus- und Tuktukfahrer zumeist südlicher Länder, die in halsbrecherischer Manier den Fahrgast möglichst schnell zum Ziel bringen möchten, in anderen Verkehrsteilnehmern aber bloß lästige Hindernisse sehen und Verkehrsregeln höchstens als Empfehlung verstehen. Wie überraschend dann der junge Jay, den uns der Reiseveranstalter für eine ganze Woche als privaten Tourguide und Fahrer zur Seite gestellt hat, um uns die schönsten Orte seiner Heimatinsel Sri Lanka zu präsentieren. In scheinbar entspannter Langsamkeit kutschiert er uns zunächst durch das notorisch verstopfte Verkehrschaos der Hauptstadt Colombo. Unzählige Ochsenkarren, fliegende Händler, wild hupende Überlandbusse, Mofas, auf denen ganze Familien Platz finden, und stoische Radfahrer mischen sich unter die Blechlawine aus Autos und völlig überladenen Lkws. Dazwischen palavernde Fußgänger, hin und wieder eine Kuh, liegengebliebene Fahrzeuge, die mitten auf der Straße repariert werden – sowie meine Frau und ich. Klar, wir erhalten viel Gelegenheit, um das fremde Gewirr aus Menschen und Maschinen auf und an den Straßen in uns aufzusaugen, und angesichts der profillosen Hinterreifen ist eine gewisse Vorsicht auch angesagt. Aber muss es derart langsam sein, dass uns bisweilen sogar Radfahrer überholen?
Es juckt in den Fingern, den Platz mit Jay zu tauschen und selbst das Steuer zu übernehmen – anarchistischer Linksverkehr hin, mit Schlaglöchern übersäte Straßen her. Doch tut eine Entschleunigung ja auch mal gut, weshalb wir beschließen, sie als Vorbereitung auf die der Rundreise anschließenden Ayurvedakur zu sehen. Ein bisschen Smalltalk könnte ablenken. So erfährt man von dem Stipendium, das unser junger Begleiter vom Goetheinstitut in Sri Lanka erhalten hat und wo er seitdem regelmäßig und mindestens einmal pro Woche zum Deutschunterricht geht. Dort leistet man im Namen des großen Dichters und Denkers offensichtlich ganze Arbeit. Denn der gute Jay spricht nicht nur gut Deutsch, er hat auch seine große Liebe zu dem Land der Germanen entdeckt. Mit leuchtenden Augen erzählt er alles, was er von dem Land weiß, und schwärmt von der Landschaft. Er zeigt stolz, dass eine wehende Deutschlandfahne das Display seines Handys ziert, und berichtet, dass sich seine Familie vor einem Jahr einen Hund zugelegt hat: natürlich einen deutschen Schäferhund, der auf den Namen Rex getauft wurde. Es scheint, Deutschland ist in seinen Augen das sagenumwobene, paradiesische Shangrila. Dezente Anmerkungen unsererseits, dass es dort weniger Reissorten gibt und definitiv keine Bananenstauden wachsen (in Sri Lanka verwöhnen rund 20 verschiedene Bananensorten jeden, der diese Frucht nur annähernd zu schätzen weiß), dass es keine wild lebenden Elefanten gibt und dass Palmen in unseren Wäldern eher selten zu finden sind, sorgen nur für kurzzeitige Irritation, können aber das bestehende Deutschlandbild nicht wesentlich erschüttern.
Verwunderung löst schon eher aus, was die vier Jahreszeiten bedeuten können, doch wird uns kein Glauben geschenkt, als wir behaupten, dass es im mitteleuropäischen Winter draußen kälter als im Innern eines Kühlschranks werden kann. Als wir endlich das Thema Sport erreichen, lenken wir das Gespräch auf die Formel 1 und die Erfolge der Herren Schumacher und Vettel. Den Vorschlag, ob er nicht auch in die Fußstapfen jener berühmten Rennfahrer treten und gleich jetzt mit dem Training beginnen wolle, quittiert Jay zwar mit einem breiten Grinsen, nicht jedoch mit auch nur einem einzigen zusätzlichen km/h auf dem Tacho.
So lernen wir in den nächsten Tagen viel kennen, wenngleich die eigentlichen Attraktionen tendenziell etwas zu kurz kommen. Denn wer sich lange auf der Straße rumtreibt, dem bleibt naturgemäß weniger Zeit zum Besichtigen. Was unserem Tourguide nicht völlig ungelegen kommt. Denn er mag ein noch so begabtes und durchweg charmantes Sprachtalent sein, Archäologe, Historiker oder Religionswissenschaftler ist er gewiss nicht. Bei den Besichtigungen alter Königsstädte, buddhistischer Tempelanlagen und zauberhaft gelegener Teeplantagen rezitiert er aus einer vergriffenen Ausgabe des Baedeckers. Der ist bestimmt keine schlechte Basis, doch vermisst man weiterführende Informationen, und Rückfragen oder gar Widersprüche zu aktuelleren Reiseführern bleiben zumeist offen.
Auch nicht schlimm, schließlich vergisst man 90 Prozent dessen, was man auf einer Rundreise erfährt, sowieso früher oder später wieder. Also belastet man sich nicht mit unnötigen Fakten, sondern freut sich auf den allerletzten Tag der Rundreise, wenn die Fahrt aus dem 1.800 Meter hohen Hochland zurück an die Küste und ins Ayurveda-Hotel führt. Das Besondere an dieser Fahrtstrecke ist die schier unglaubliche Schönheit, mit der sich Natur und Landschaft entlang der Straße präsentieren: spektakuläre Täler voller Gemüsefelder, Obstplantagen und Waldgebiete, nebelumhangene Berggipfel, Wasserfälle, riesige Bäume, sich windende Bäche und wild wachsende Blumen am Straßenrand lassen einen endgültig zur Ruhe kommen. Eine Fahrt für die Seele…
Denkste! Heute kann es nicht schnell genug gehen. Schwer lastet der Bleifuß auf dem Gaspedal, und kein Omnibus oder Obstlaster ist vor uns sicher. Wie ist dieser verblüffende Wandel nur zu begreifen? Relativ einfach, denn eine ganze Woche hat sich Jay fürsorglich um uns gekümmert, ohne sein Zuhause zu sehen, wo seine Freundin sehnsüchtig auf ihn wartet. Die Rückkehr nach Colombo unmittelbar vor Augen, kann der Liebende nun nicht mehr seine Gefühle unterdrücken. Und da Liebe bekanntlich Flügel verleiht, fliegt er förmlich mit zwei Touristen im Schlepptau über Schotter und Asphalt. Diesem jungen Glück möchte man nicht entgegenstehen – und würde sich auch nicht trauen. Fast schon in der Manier eines „Super G“-Skirennfahrers jagen wir zuerst durchs Hochland und später durch den dichten Verkehr der Küstenstraße. Endlich am Hotel angekommen, fällt der Abschied genauso herzlich wie kurz aus. Denn Jay hat jetzt Blut geleckt und möchte endlich in die Arme seiner Liebsten. Wir dagegen begeben uns nun langsam, gaaanz langsam, zu unserem kleinen Bungalow am Strand, um die in den Vortagen schätzen gelernte Bedächtigkeit in aller Ruhe zu genießen.
2 Antworten auf Sri Lanka oder die Entdeckung der Langsamkeit