Weite Wald- und Wiesenlandschaften, zahlreiche Gebirgsseen und hohe, schneebedeckte Gipfel – nicht nur optisch, auch klimatisch könnten wir uns genauso gut in der Schweiz befinden, als wir im März 2006 in dem kleinen Ort Pucón ankommen. Dort sind wir aber nicht, sondern in der Región de la Araucanía, etwa 600 Kilometer südlich von der chilenischen Hauptstadt Santiago entfernt. „Kleiner Süden“ oder „Chilenische Schweiz“ wird diese Region passenderweise auch genannt. Pucón liegt in einem der beliebtesten Feriengebiete Chiles. Seine schmucken Holzhäuser, einladenden Hotels, Campingplätze und gemütlichen Restaurants säumen das schwarze Südufer des Lago Villarica, das sich unterhalb des gleichnamigen Vulkans befindet. Der Villarica ist 2.840 Meter hoch und erinnert Bewohner wie Besucher jeden Tag mit einer Rauchfahne daran, dass er in der Vergangenheit bereits viele Male nicht nur die Häuser umliegender Dörfer zerstört, sondern auch zahlreiche Menschenleben gefordert hat. Dennoch gehört der aktive Vulkan zu den bekanntesten Attraktionen Chiles – und unzählige Ausflügler und Abenteurer pilgern jedes Jahr den rauchenden Riesen hinauf, um einen Blick über seinen Kraterrand in die brodelnde Lava zu wagen.
Das Erbe Pucóns: Mapuche und deutsche Einwanderer
In den warmen Sommermonaten (November bis Februar) ist Pucón von Touristen überlaufen – Raften, Reiten und Radfahren sind nur einige der Freizeitaktivitäten, die die Urlauber hier besonders gern unternehmen. Der März ist eine ideale Zeit, um die umliegenden Seen, Nationalparks und Thermalquellen in Ruhe zu erkunden, denn das Wetter ist noch gut, aber die Haupturlaubssaison bereits vorbei. Baden im Lago Villarica ist zu dieser Jahreszeit aufgrund der schon recht frischen Temperaturen nicht mehr empfehlenswert. Dafür können wir am ersten Tag unserer Reise ungestört die Sonne an dem ungewöhnlichen, schwarzen Vulkansandstrand genießen. Nach dem kleinen Abstecher zum See sehen wir uns in Pucón um. Die Stadt ist wirklich hübsch hergerichtet und sehr übersichtlich. Die meisten Geschäfte befinden sich auf der Avenida O’Higgins, der Flaniermeile des Örtchens, das gerade einmal rund 14.000 Einwohner zählt. Hier reihen sich kleine Boutiquen, Handwerksgeschäfte und Restaurants aneinander, aber auch moderne Outdoor- und Sportbekleidung für die nächste Tour kann man kaufen. Dazu gesellen sich auf den umliegenden Nebenstraßen Bäckereien, Chocolaterien, Bars und – jawohl – eine Dönerbude (ein Foto habe ich leider nicht).
Schwer zu glauben, dass sich der beliebte Ferienort aus einem ehemaligen Militärlager entwickelt hat, das zu Zeiten des Krieges gegen die Mapuche errichtet wurde. Die Geschichte der Ureinwohner Chiles ist noch heute vielerorts allgegenwärtig – am Lago Villarica wurden lebensgroße Indianerfiguren errichtet und in Pucón kann man indianische Schnitzereien erwerben. Bis 1881 gehörte das Gebiet um den See zum Machtbereich der Mapuche. Heute leben sie nördlich des Río Trancura im Gebiet Reducción Quelhue, das man von Pucón aus bei einem Ausflug besichtigen kann. Teilweise bieten die Nachfahren der Mapuche Einblicke in ihre traditionelle Lebensweise.
In Pucón ist aber nicht nur der Einfluss der Mapuche zu spüren: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen viele deutsche Einwanderer in den „Kleinen Süden“ – und für gar nicht so wenige Chilenen ist Deutsch immer noch die Muttersprache. Das stellen auch wir schnell fest, nicht nur, weil eine der Bäckereien im Ort den Namen „Holzapfel“ trägt. Als wir einen Laden besuchen, in dem man kunstvoll gezeichnete Landkarten der Region kaufen kann, meint mein Freund: „Guck mal, das ist die gleiche Karte, die es auch in unserem Hostal zu kaufen gibt“, und zeigt auf eine Karte an der Wand. „Ja, aber die ist hier viel teurer“, erwidere ich, als es von hinten aus dem Laden hallt: „Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“ Auf Deutsch unbemerkt die teils überzogenen Preise monieren, kann man in Pucón also definitiv nicht.
Verzaubern die Besucher: die türkis-blauen „Augen des Caburgua“
Am Nachmittag machen wir unseren ersten Ausflug Richtung Randgebiet des Parque Nacional Huerquehue. Ein Kleinbus fährt uns für 700 Pesos (damals rund ein Euro) zu den Ojos del Caburgua („Augen des Caburgua“). Eine halbe Stunde dauert die Fahrt – bis wir die Wasserfälle endlich erreichen, müssen wir allerdings erst einmal Eintritt zahlen (500 Pesos pro Person) und das letzte Stück über schmale Pfade, die sich durch den dichten Wald schlängeln, zu Fuß bewältigen. Es ist recht kühl zwischen den schattigen Bäumen, doch wir haben Glück mit dem Wetter, denn nur bei Sonnenschein leuchten die Ojos del Caburgua in den intensiven Türkis- und Blautönen, für die sie so bekannt sind. Nach einer ausgiebigen Erkundungstour durch den Wald geht es mit dem Bus wieder zurück nach Pucón. Sportliche können sich übrigens auch Mountainbikes ausleihen und über einen Waldweg zu den Wasserfällen radeln, allerdings ist der Anstieg durch den Wald recht anspruchsvoll. Die Tour ist hin und zurück etwa 40 Kilometer lang.
Abends wollen wir in einem Restaurant essen gehen, doch die Entscheidung fällt schwer. Denn obwohl Pucón recht klein ist, können Touristen zwischen einer Vielzahl an unterschiedlichen Restaurants wählen. Von traditionell chilenischer bis internationaler Küche ist alles vertreten und vor jedem Restaurant steht ein Kellner, der versucht, die Touristen in „sein“ Lokal zu locken. Auch hier versucht man uns teilweise auf Deutsch davon zu überzeugen, warum wir uns für gerade dieses Restaurant entscheiden sollten. Die Wahl fällt schließlich auf einen Italiener, wo ich die mit Abstand beste Lasagne meines Lebens gegessen habe.
Pyroklastische Ströme und heiße Quellen
Am nächsten Morgen werden wir früh wach, denn vor unserem Zimmer hören wir, wie sich eine kleine Gruppe für den Aufstieg auf den Villarica fertig macht. Bis in den Spätsommer bieten viele Hostals und Reiseveranstalter geführte Touren zum Vulkan an, die auch für ungeübte Bergsteiger gut zu bewältigen sind. Wir bleiben noch etwas liegen und genießen später das selbstgebackene Brot und die hausgemachte Marmelade beim Frühstück in der „La Tetera“ – ein zentral gelegenes und preiswertes Hostal, das besonders gern von internationalen Gästen genutzt wird, denn Spanischkenntnisse benötigt man hier nicht. Gut gestärkt wollen auch wir uns zum Vulkan aufmachen, allerdings nicht, um den Gipfel zu erklimmen – zu viel Ehrfurcht habe ich vor dem Vulkan, den selbst die Mapuche nicht besteigen. Für sie ist der Berg heilig. Wir mieten uns einen Fiat Panda für die Anfahrt und sind oftmals erstaunt, wie ein so kleines, schwach motorisiertes Auto die losen, steinigen Schotterwege bewältigen kann, die der Chilene noch als „Straße“ bezeichnet.
In der Region um den Lago Villarica gibt es so einige Vulkane zu bestaunen. Der Gletscher des Bilderbuchvulkans Villarica ist noch ein ganzes Stück entfernt, als wir Halt machen, um eine Höhle zu besichtigen, die einst durch die heiße Lava des Vulkans geformt wurde. Bei der geführten unterirdischen Tour erfahren wir so einiges über den Feuerberg und seine vergangenen Eruptionen – etwa, dass Pucón genau in der Gefahrenzone liegt oder dass der Villarica oftmals gar keine Lava speit, sondern Lahare (Schlammlawinen) oder pyroklastische Ströme. Letztere sind Gaswolken aus feiner Vulkanasche, die mit einer Geschwindigkeit von bis zu 700 Kilometern pro Stunde den Berghang herunterrasen und bei einer Temperatur bis zu 800 Grad Celsius alles verbrennen, was sich ihnen in den Weg stellt. Zum Wegrennen bleibt da keine Zeit und ich fühle mich bei dem Gedanken plötzlich gar nicht mehr so wohl in meiner Haut, denn der nächste Ausbruch des Villarica ist längst überfällig.
Nach der Führung bin ich froh, als wir uns wieder etwas vom Vulkan entfernen. Wir besuchen die Thermalquellen und entspannen im zwischen 34 und 43 Grad heißen Wasser. Die Termas Los Pozones sind etwas rustikaler, dafür aber auch sehr natürlich und vor allem günstig. Die in Stein gefassten Becken liegen am Ufer des Flusses Liucura. Umziehen kann man sich in einer der Holzkabinen. Wer eine luxuriösere Variante sucht, wird beispielsweise in den Termas de Huife fündig.
Funkeln und Flimmern: Sternenreiche Südhalbkugel
Am nächsten Tag erkunden wir mit dem Wagen noch weiter die Gegend um die Thermalquellen und statten unter anderem dem nahegelegenen Lago Caburgua und den Wasserfällen Los Tres Saltos einen Besuch ab, deren Besichtigung uns einiges an Kletterkünsten abverlangt. Auch durch den Parque Nacional Huerquehue fahren wir ein Stück und genießen die Natur und die tolle Aussicht. Als wir an einem weiteren See ankommen und ein Foto von dem Bergpanorama machen möchten, will man uns dafür zur Kasse bitten. So nicht – wir reisen direkt weiter. Die einzelnen Sehenswürdigkeiten liegen teilweise recht weit auseinander. Man sollte sich daher vor der Tour einen genauen Plan davon machen, was man an einem Tag alles besichtigen will, um die Zeit optimal zu nutzen. Ansonsten kurvt man wie wir bisweilen doch recht planlos in der Gegend rum, auch wenn es in der Landschaft immer viel zu entdecken gibt.
Am Abend beschließen wir noch einmal zu den Termas Los Pozones zu fahren, denn die haben auch bis spät in die Nacht geöffnet und Besucher baden dann relativ ungestört – die Dame an der Kasse denkt sich ihren Teil und lächelt, als wir, ein junges Paar, in den dunklen Abendstunden die Therme besuchen. Die Becken sind nicht überdacht und liegen im Freien. Das Tolle daran: Man hat einen atemberaubenden Blick auf den Sternenhimmel der Südhalbkugel, der viel mehr zu bieten hat als der nördliche. Nicht nur, weil die Lichtverschmutzung in Pucón relativ gering ist im Vergleich zu den deutschen Städten, sondern auch, weil man von hier aus direkt in das Zentrum der Milchstraße blickt. Wir bewundern das Flimmern und Funkeln über uns noch eine Weile, bis wir uns wieder zum Hostal aufmachen und unsere Abreise vorbereiten – viel zu früh, denn ein paar Tage reichen nicht aus, um die ganze Vielfalt dieser faszinierenden Region zu entdecken.