Wie eine Perle im Felsenmeer liegt der Ortasee (Lago d’Orta) zwischen Monte-Rosa-Massiv und Mottarone im Piemont. Er ist der kleinste der oberitalienischen Seen, aber nicht weniger sehenswert als seine berühmten Brüder. Im Gegenteil: Während der etwas weiter östlich gelegene Lago Maggiore vor allem im Sommer von Touristen überlaufen ist, geht es am Ortasee gemütlicher zu. Dank des milden Klimas und der reizvollen Landschaft herrscht hier fast schon Mittelmeer-Feeling vor alpiner Kulisse. Das Westufer des Sees ist rau und steigt steil zu den Ausläufern des Monte-Rosa auf, das mit 4.634 Metern zweithöchste Bergmassiv der Alpen. Am Ostufer des Sees erhebt sich der Monte Mottarone. Mit seinen 1.491 Metern ist er nicht ganz so hoch, bietet Wanderern aber dennoch einen atemberaubenden Ausblick auf die umliegenden Alpen und die Nachbarseen. Zwar ist Omegna die größte Siedlung des Sees, touristisches Zentrum und Namensgeber ist jedoch die kleine Gemeinde Orta San Giulio oder kurz: Orta.
Nicht nur in Orta ist der Uferstreifen mit zahlreichen Villen und anderen Prachtbauten gesäumt. Als wir uns 2008 zu dem malerischen Ort aufmachen, setzen wir von Pella auf der gegenüberliegenden Seite des Sees mit dem Boot über. Während wir auf das Wassertaxi warten, schlendern wir am Bootssteg entlang und genießen ein original italienisches Eis. Die kleine Eisdiele am Ufer hat unzählige Sorten im Angebot, darunter auch ungewöhnliche Geschmacksrichtungen wie Veilchen. Das möchte ich probieren und bestelle, obwohl ich die Landessprache nicht spreche, zwei Kugeln im Becher auf Italienisch – zumindest hört es sich für mich so an. Die Verkäuferin lächelt und antwortet in perfektem Deutsch: „Bitte sehr, zwei Kugeln Veilchen im Becher.“ Der gute Wille zählt.
Mit dem Boot legen wir ab Richtung Orta und fahren vorbei an der Insel San Giulio, die, wie der Name schon erkennen lässt, zu Orta San Giulio gehört. Sie befindet sich mitten auf dem See und ist fast komplett umbaut. Die alten Häuser werden von Bogenreihen und Fresken geziert. Den Großteil der Inselfläche nimmt das Kloster Mater Ecclesiae ein. Man kann hier einen Zwischenstopp bei der Überfahrt einlegen, was wir am Ende der Tagestour auch gemacht haben. Es lohnt sich, allein schon um die Umgebung des Sees einmal von der Insel aus zu betrachten.
In Orta San Giulio angekommen herrscht ungewöhnlich großer Trubel am Ufer: Die Teilnehmer des Cusio Cup machen sich bereit zum Start. Der Triathlon findet jährlich in Orta statt. Um zu gewinnen, müssen die Teilnehmer einmal um die Insel schwimmen, 38 Kilometer um den See radeln und neun Kilometer laufen – das letzte Stück führt durch Orta hoch zum Sacro Monti, dem heiligen Berg der Stadt. Die Region um den Ortasee ist eine sportliche Gegend: Wandern, Fahrradfahren und Wassersportarten wie Segeln und Wasserski sind besonders beliebt. Auch bei Motorradfahrern ist der Ortasee ein gefragtes Ausflugsziel. Wir sehen uns das Sportspektakel eine Weile an, schon beim Schwimmen scheitern die ersten Teilnehmer. Als sich die Sportler auf ihre Räder schwingen, kehrt Ruhe ein und wir beginnen mit unserer Tour durch die Stadt.
Orta hat eine malerische Altstadt mit Bürgerhäusern aus der Renaissance und dem Barock. Belebte Plätze mit Restaurants und Cafés wechseln sich mit charmanten Gassen ab. Auch hier sind die Gebäude oft mit Fresken bemalt wie beispielsweise das Palazzo della Comunita. Das ehemalige Rathaus steht auf dem Hauptplatz Piazza Motta, wo sich auch der Bootssteg befindet, an dem wir angelegt haben. An allen Ecken entdecken wir Kunsthandwerk oder Antiquitäten sowie zahlreiche Leckereien. Diese werden den vorbeischlendernden Touristen vor manchen Geschäften zum Probieren angeboten. Der Herr mit den Wurstspezialitäten ist ein wenig beleidigt, als ich den luftgetrockneten Schinken und die Knoblauchsalami verschmähe, findet aber schnell andere freudige Abnehmer. Was ich unbedingt haben muss, sind die hausgemachten bunten Nudeln, die fast schon wie kleine Kunstwerke wirken – eigentlich viel zu schade zum Essen.
Die Stadt hat nicht nur kulinarisch viel zu bieten, sondern auch kulturell. Schon vor Christi Geburt siedelten am Ortasee Gallier und Kelten. Später kolonisierten die Römer die Siedlungen. Ende des 4. Jahrhunderts wurde das Christentum eingeführt. Der Legende nach sollen die griechischen Brüder Julius und Julian alle heidnischen Tempel zerstört haben und errichteten Kirchen an ihrer Stelle. Die hundertste Kirche sollen sie auf der Insel mitten auf dem Ortasee errichtet haben, die deshalb heute den Namen San Giulio trägt. Sakralbauten findet man viele um den Ortasee. Sie sind nicht nur für religiöse Menschen interessant, sondern auch für Architektur- und Kunstinteressierte.
Vom Piazza della Motta führt beispielsweise die steile Treppengasse Salita della Motta zur Kirche Santa Maria Assunta hinauf. Sie wurde erstmals 1485 erbaut und im 18. Jahrhundert wiedererrichtet. Ein weiterer steiler Fußweg führt vom Hauptplatz hoch zum Sacro Monte. Der heilige Berg ist für viele Anwohner und Touristen religiöses und kulturelles Highlight von Orta San Giulio. Hier stehen 20 Kapellen, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zu Ehren des heiligen Franziskus von Assisi errichtet wurden und UNESCO Weltkulturerbestatus genießen. Jede Kapelle erzählt mit kunstvollen Fresken und lebensechten Terrakottafiguren vom Leben und Wirken des Heiligen. Auch vom Sacro Monte aus hat man eine herrliche Aussicht auf den Ortasee und die Insel San Giulio.
Wir verlassen Orta schweren Herzens und kehren nach einem kleinen Zwischenstopp auf San Giulio wieder in Pella ein. Dort lassen wir den Tag in einem Restaurant bei leckerer Pizza und einem Glas Rotwein ausklingen – wie es sich gehört für einen Italienbesuch.
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